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Ein Mann geht in die Kaufhalle,
von seiner Frau mit einem Zettel bestens für den Einkauf ausgerüstet:
Organisation ist alles! Da hält doch eine von diesen miesen Typen,
die wir alle kennen, den ganzen Laden durch Unentschlossenheit, schlechte
Einkaufsvorbereitung und so weiter auf. Unser Mann wird eingreifen, aber
ihm fehlt eine ganze Kleinigkeit, um Vorbildwirkung ausstrahlen zu können
. . .
Im allerneuesten Neubau der
Gegend, mitten in Berlin, oder auch mitten am Rande von Berlin, geht jemand
kassieren unter den Mietern, die sich noch kaum berochen haben, weil da
einer gestorben ist, der zu ihnen gehört hätte, wäre er
nicht gestorben . . . Krauses erwarten Besuch von Müllers, die aber
sind untröstlich, weil ganz kurze Zeit zuvor ihr ein und alles --
also ihr Hund Arthur -- das Zeitliche gesegnet hat, plötzlich und
unerwartet, durch einen Verkehrsunfall nämlich, was bei allem Verständnis
allein nicht den Trauerflor am Ärmel der beiden erklärt . . .
Ein ganz kleiner Mann wird
von einer ganz großen Frau am ersten Weihnachtsfeiertag spazieren
geführt; wer von ihnen das Sagen hat, ist nach den ersten Sätzen
klar, aber da einer der beiden keinen Personalausweis bei sich hat, verteilen
sich am Ende die Gewichte ganz anders . .
Was passiert, wenn ein junges
Mädchen von einem mittelgroßen Kalb, das sich auf den zweiten
Blick als überdimensionale Dogge entpuppt, in ein gut besetztes Abteil
für Fahrräder, Traglasten und Hunde der Berliner S-Bahn gezogen
wird? Kaum anzunehmen, daß nichts passiert, aber das, was man am
Beginn der Szene erwartet, passiert eben nicht . . .
Es sind schon ziemlich merkwürdige
Begebenheiten, die auf dieser Platte erzählt werden. Bei den meisten
Geschichten ist der berlinische Hintergrund unverkennbar, aber es ist vornehmlich
der Hintergrund, die Menschen mit ihren Problemen, ihren Physiognomien,
ihren Schrullen sind nicht durchweg unverwechselbare berlinische "Charakterköppe",
wir treffen sie überall.
Der die Geschichten aufgeschrieben
hat, liest sie am liebsten und am besten auch selbst. Er heißt John
Stave, ist vom Jahrgang 1929 und ein waschechter, sprich gebürtiger
Berliner dazu; hat, so weit feststellbar, keine angelsächsischen Vorfahren,
weswegen ohne Verrenkung sein Name unbedenklich auf Agave, Enklave, auch
auf Ottokar, der Brave gereimt werden darf. Ferner spreche man tunlichst
den Vornamen wie Joohn oder Jonn, niemals jedoch wie Dschonn aus (siehe
oben).
John Stave erlernte während
des zweiten Weltkrieges und danach~den Beruf eines Klischeeätzers.
Er erlebte als Halbwüchsiger das Inferno des Bombenkrieges, die Hysterie
der nazistischen Durchhalteparolen und erfuhr den Einmarsch der Roten Armee
in Berlin durchaus als Akt der Befreiung. Aus dieser Zeit stammt ein erster,
für die Selbstverständigung gedachter, Schreibversuch des knapp
l6jährigen, ein unsentimental und scharfsichtig-skeptisch anmutendes
Tagebuch, in dem er Eindrücke und Erlebnisse in seinem Kietz, Berlin-Friedrichshain,
beim Niedergang und Ende der Nazi-Herrschaft festgehalten hat.
Ich habe John Stave nicht
gefragt, ob und wann er die Lust zur literarischen Arbeit so stark gespürt
hat, daß er dann eine sogenannte Laufbahn als Schriftsteller anzutreten
sich entschloß. Am Anfang seiner beruflichen Laufbahn nach Abschluß
der Lehre stand für den aufgeweckten, politisch engagierten Berliner
Arbeiterjungen die Mitarbeit zunächst in der damaligen Zentralverwaltung
für Volksbildung unter Paul Wandel und später im von Gerhart
Eisler geleiteten Amt für Information. Da dieses Amt der demokratischen
Presse in der jungen Deutschen Demokratischen Republik eng verbunden war,
nimmt es nicht wunder, daß John Stave Ende 1951 beim Vorgänger
des "Eulenspiegel", der satirischen Wochenzeitung "Frischer Wind" als Redakteur
seinen Einstand gab.
Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure
sind, wie jeder weiß, nicht nur dazu da, Artikel ihrer Autoren zu
redigieren und druckfertig zu machen, sondern auch, und das nicht zu knapp,
eigene Beiträge zu schreiben. Da eine satirische Zeitschrift von jeher
auch von Glossen, Kurzgeschichten und Feuilletons lebt,
hatte Stave genügend
Zeit, sich zu erproben. Immerhin hielt er dem Redakteursstuhl zehn Jahre
lang die Treue, bis er sich ab 1. Januar 1962 als freiberuflicher Schriftsteller
den rauhen Lüften freischöpferischer Tätigkeit aussetzte.
Inzwischen hieß die
Zeitschrift, der er diente, längst "Eulenspiegel". Sie hatte sich
seit 1954 einen eigenen Buchverlag zugelegt, dem es nur willkommen war,
daß guten Geschichten der Zeitschriftautoren in Buchform, hübsch
illustriert, zu etwas dauerhafterem Leben verholfen wurde. John Stave erhielt
bald neben Hansgeorg Stengel, Rudi Strahl, Ottokar Domma, C. U. Wiesner,
Renate Holland-Moritz, Lothar Kusche und anderen den Status und das unsichtbare
Markenzeichen eines Eulenspiegel-Stammautors. Die Unsichtbarkeit dieses
Markenzeichens besteht unter anderem in einer seit Jahrzehnten permanenten
Unsichtbarkeit ihrer Bücher in den Buchhandlungen. Vielleicht erwischt
der eine oder andere eine soeben eingetroffene Neuerscheinung oder eine
Paperback-Sonderausgabe,
es sei denn, er unternimmt
es, sich aut einem der in der ganzen Republik beliebten Buchbasare geduldig
in die Schlange der Wartenden einzureihen, um dann immerhin ein Buch mit
der Signatur des Autors zu erwerben. Will sagen, John Stave ist zu einem
der populärsten Schrittsteller geworden, dessen Begabung für
das Komische in all seinen Variationsmöglichkeiten unverkennbar ist.
Ganz sicher verfügt er neben einer für jeden Schriftsteller nötigen
Beobachtungsgabe über ein erstaunliches Maß an Phantasie, die
ihn aus scheinbar harmlosen kleinen Begebenheiten groteske bis zwerchfellerschütternde
spektakuläre Vorfälle, ja, wenn der Ausdruck erlaubt ist, komische
Katastrophen machen läßt. Immer wieder sind es Menschen wie
du und ich, kleine und große Angeber, ehrenwerte Halunken, scheinbar
zu kurz Gekommene, nach großer und kleiner Gerechtigkeit Suchende,
die mit bissiger Schärfe, liebenswürdiger Ironie und verständnisvollem
Lächeln auf die Schippe genommen werden.
Ist schon in der Schreibwefse
von Stave häufig das Kunstmittel des Understatement feststellbar,
so wird der Genuß seiner Texte geradezu vollkommen für den,
der sie vom Autor mit betonter Zurückhaltung gelesen hört: Die
Geschichten auf dieser Platte werden es zeigen. Sie sind übrigens
umrahmt von Kompositionen für drei Fagotte und ein Kontrafagott des
dem Eulenspiegel-Verlag eng verbundenen Orchesterleiters, Ein-Mann-Musikanten
und Komponisten Henry Krtschil, die -- für diese Geschichten geschaffen
-- während der Lesung der Texte uraufgeführt worden sind.
Wolfgang Sellin |