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Wir schreiben das Jahr 1898.
Ein Mann reist mit einem Auftrag
von Amerika nach Europa. Er sucht Geldgeber für die Vollendung einer
ungeheuerlichen Erfindung. Aber die Regierungen in London, Paris und Berlin
stellen erpresserische Bedingungen. Unverrichteterdinge reist unser Mann
zurück nach den USA. Er weiß nicht, daß er verfolgt wird.
Dann peitschen Schüsse durch ein einsam gelegenes Laboratorium. Am
nächsten Tag geht eine Sensationsmeldung um die Welt: der Mann ist
verschwunden - und mit ihm sein Auftraggeber, der berühmteste Erfinder
der Welt. Ein Vierteljahr später ereignet sich eine der rätselhaftesten
und merkwürdigsten Naturkatastrophen der Weltgeschichte: eine Insel
fliegt in die Luft, explodiert, löst sich auf zu Gesteinspulver, Felstrümmern
und Sand, verschwindet im aufkochenden Ozean: die Insel BACK CUP.
Was sind die Hintergründe
des Geschehens? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Menschenraub und
der Explosion? Ist die Erfindung zu einer Erfindung des Verderbens geworden?
Unser Schallplatten-Bericht
schildert die Zusammenhänge.
Aber so authentisch dieser
Bericht auch klingen mag - er ist erfunden. Er erzählt keine wirkliche
Geschichte, sondern eine mögliche. Ihr geistiger Urheber ist der französische
Schriftsteller JULES VERNE mit seinem Roman DIE ERFINDUNG DES VERDERBENS.
Für Jules Verne (1828
bis 1905) und seine Zeitgenossen war DIE ERFINDUNG DES VERDERBENS ein utopischer
Roman: er nahm, in einer phantastischen Geschichte, eine wissenschaftlich-technische
Leistung vorweg, die der menschlichen Vernunft zukünftig erreichbar
schien: ein Sprengstoff von unbegrenzter
Explosivkraft Diese wissenschaftliche
Utopie Jules Vernes hatte die Beweiskraft einer Zeit für sich, in
der sich dem Menschen neue Dimensionen der Weltaneignung erschlossen. Es
war die Zeit der Polarexpeditionen und der Versuche mit lenkbaren Luftschiffen,
des Vordringens ins Erdinnere und des Nachdenkens über die Überwindung
der Erdanziehung, des Zusammenschrumpfens der Entfernungen durch neue Transport-
und Nachrichtenmittel. Der Benzin-Verbrennungsmotor stand auf der Tagesordnung,
und er würde das Flugzeug ermöglichen. Thomas Alva Edison konservierte
die menschliche Stimme auf Wachsscheiben, und die Gebrüder Lumiére
fixierten auf ihren Stummfilmen die menschliche Bewegung. Röntgen
entdeckte die nach ihm benannten Strahlen, das Ehepaar Curie den radioaktiven
Zerfall der Elemente Polonium und Radium. Die Entdeckung anderer Elemente
bestätigte die Richtigkeit des von Mendelejew aufgestellten Periodensystems.
Laval entwickelte die Dampfturbine, und die ersten Wasserturbinen wurden
im damals weltgrößten Kraftwerk am Niagarafall installiert:
die explosionsartig anwachsende Industrie mit ihren vielfältigen neuen
Produktionsverfahren hungerte nach mächtigen Energiequellen. Die Welt
schien heil und lenkbar durch die menschliche Vernunft, die sich auf wissenschaftlich-technischem
Gebiet mit so unbegrenzter Produktivität bewährte.
Fünfzig Jahre darauf
ist die Welt um tiefgreifende und schmerzliche Erfahrungen reicher.
Der sich um die Jahrhundertwende
entwickelnde Imperialismus verwendete diese Erfindungen so, wie es bei
,Jules Verne nur die Piraten tun: zur Zerstörung. Er produzierte das
Maschinengewehr, den Tank und das Panzerschiff. Er produzierte zwei Weltkriege.
Und am Ende des zweiten nahm Jules Vernes Fulgurator die Gestalt der Atombombe
an, und einer der von dem französischen Schriftsteller so hochgeschätzten
zivilisierten Industriestaaten war es, der sie zündete: die USA.
Die Benutzung der großen
wissenschaftlichen Leistungen wurde zum gesellschaftlichen Problem. Die
Erfinder selbst mußten, sie mochten wollen oder nicht, in der von
Klassenkämpfen zerrissenen Welt ihren Anteil der Verantwortung dafür
übernehmen, ob die Ergebnisse ihrer Arbeit die "Mühsal der menschlichen
Existenz erleichtern" oder vergrößern würden. Wissenschaftliche
Vernunft wurde gefährlich, paarte
sie sich mit gesellschaftlicher
Blindheit, bedachte sie nur die wissenschaftlichen, nicht auch die politischen
Folgen ihrer Ergebnisse.
Die Bearbeitung von Jules
Vernes Roman für die Schallplatte war ohne solche Überlegungen
nicht möglich. Wir konnten nicht so tun, als wüßten unsere
jungen Zuhörer nicht, wer Einstein und Oppenheimer waren, was in Hiroshima
und Nagasaki geschehen ist. Die Utopie des französischen Autors war
als Utopie nicht mehr aufrechtzuerhalten. Aber seine Ahnung künftiger
wissenschaftlicher Leistung, sein Glaube an die unbegrenzten menschlichen
Fähigkeiten zur Eroberung der Welt und zum vernünftigen Handeln
- sie erfüllten uns mit tiefer Bewunderung, auf sie konnten wir uns
stützen, sie wollten wir vermitteln. So brauchten wir die abenteuerliche
Geschichte von der Erfindung des Verderbens, die auch eine Erfindung des
Glücks sein könnte, eigentlich kaum zu verändern. Wir mußten
nur die Vertreter der großen kapitalistischen Industriestaaten so
handeln lassen, wie sie in Wirklichkeit gehandelt haben und heute noch
handeln, mußten die Ähnlichkeit zwischen ihrem Verhalten und
dem der Piraten hervorheben und durften den Ingenieur Simon Hart ein paar
Entdeckungen machen lassen, die Jules Verne zu seiner Zeit noch verschlossen
sein mußten...
Andreas Scheinert (1975) |