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Ich mochte gerne ein paar Worte
über meine Informationen verlieren, bevor der eine oder andere Verdacht
sich meldet. Mein wichtigster Gewährsmann ist Jakob, das meiste von
dem, was ich von ihm gehört habe, findet sich hier irgendwo wieder,
dafür kann ich mich verbürgen. Aber ich sage, das meiste, nicht
alles, mit Bedacht sage ich das meiste, und das liegt diesmal nicht an
meinem schlechten Gedächtnis. Immerhin erzähle ich die Geschichte,
nicht er, Jakob ist tot, und außerdem erzähle ich nicht seine
Geschichte, sondern eine Geschichte.
Er hat zu mir gesprochen,
aber ich rede zu euch, das ist ein großer Unterschied, denn ich bin
dabeigewesen. Er hat versucht, mir zu erklären, wie eins nach dem
anderen gekommen ist und daß er gar nichts anders gekonnt hat, aber
ich will erzählen, daß er ein Held war. Keine drei Sätze
sind ihm über die Lippen gekommen, ohne daß von seiner Angst
die Rede war, aber ich will von seinem Mut erzählen...
Einiges weiß ich noch
von Mischa, aber dann gibt es ein großes Loch, für das einfach
keine Zeugen aufzutreiben sind. Ich sage mir, so und so muß es ungefähr
gewesen sein, oder ich sage mir, es wäre am besten, wenn es so und
so gewesen wäre, und dann erzähle ich und tue so, als ob es dazugehört.
Und es gehört auch dazu, es ist nicht meine Schuld, daß die
Zeugen, die es bestätigen könnten, nicht mehr aufzutreiben sind.
Wir wollen wissen, ob es stimmt,
daß sie uns gegen Lösegeld verkaufen wollten. Wenn ja, wo bleibt
das Geld? Wir wollen wissen, ob es den Tatsachen entspricht, daß
ein jüdischer Staat gegründet werden soll. Wenn ja, wann? Wenn
nicht, wer hintertreibt es? Vor allem wollen wir wissen, wo die Russen
bleiben, drei Wochen machst du uns den Mund wässrig, wie es dir mit
Puffern nie gelungen ist. Erzähle, wie sie die Fronten durchbrechen,
welche Taktik sie anwenden, ob sie die Gefangenen als Gefangene behandeln
oder als Sträflinge, ob sie im Osten großen Ärger haben
mit den Japanern, ob ihnen die Amerikaner nicht wenigstens das abnehmen
können, wenn sie schon nicht in Europa landen. Und wir wollen auch
wissen, was die Karriere von Kiepura macht, wie er sich zurechtfindet in
Amerika. Eine Menge an Neuigkeiten muß inzwischen aufgelaufen sein,
schön, sie werden keine Zusammenfassung extra für uns senden,
sie haben keine Ahnung, wie wir unter der Stromsperre gelitten haben, aber
einiges erfährt man schon neben dem Allerneuesten, laß bitte
nichts aus, hörst du, bitte nichts.
Bedauernswert ist Jakob. Ein
gut eingerichtetes Büro müßte er haben, ein Hauptquartier
mit drei Sekretärinnen, besser noch mit fünf. Ein paar Verbindungsmänner
in allen wichtigen Hauptstädten, die pünktlich und zuverlässig
jede ausspionierte Kleinigkeit ins Hauptquartier schicken. Wo die Sekretärinnen
mit rauchenden Köpfen die Kleinigkeiten aussortieren und sämtliche
Zeitungen von Rang lesen und alle Sender abhören, und aus allem den
Extrakt gewinnen und ihn Jakob vorlegen als dem Endverantwortlichen, dann
könnte er ungefähr ein Drittel der Fragen wahrheitsgemäß
beantworten, so wahr wie Zeitungen und Sender und Verbindungsmänner
eben sind.
.. Kowalski trabt zurück
zum nächsten Sack, naß wie ein Pudel. Die trockenen Schmidt
und Jakob bemühen sich auch ein wenig, zur Abwechslung ohne Plaudern,
wieviel Säcke auf einen einzigen Waggon passen. Bis zur nächsten
kleinen Unterbrechung, bis Schmidt etwas Wichtiges einfällt, bis er
fragt: "Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel, Herr Heym, was sagt
eigentlich Sir Winston zur augenblicklichen Situation?"
"Wer?"
"Churchill. Der englische
Premierminister."
"Keine Ahnung, was er sagt.
Haben Sie noch nicht gehört? Mein Radio ist kaputt." "Machen Sie keine
Scherze!"
"Was denken Sie denn von mir?"
sagt Jakob ernst.
Schmidt scheint betroffen,
registriert Jakob, genau wie die anderen heute schon, denen man es mit
hängenden Schultern und verzweifelter Stimme gleich am Morgen nicht
verschweigen durfte, die einzige Neuigkeit des Tages. Schmidt, der etwas
hochnäsige, den ein Witzbold Leonard Assimilinski getauft hat, dieser
Schmidt scheint einen Stich im Herzen zu fühlen wie alle, plötzlich
gleicht er ihnen aufs Haar.
"Wie ist es denn geschehen?"
fragt er leise.
Die Antwort darauf wurde in
der Frühe abgewandelt, es war nicht Zeit genug, sie jedem einzelnen
darzureichen wie Kowalski, in Seidenpapier gewickelt, Jakob hat sich zu
erheblichen Streichungen entschließen müssen. Wie es geschehen
ist?
"Na, wie schon? Wie so ein
Radio eben kaputtgeht. Gestern spielt es noch, und heute spielt es nicht
mehr."
Die Reaktionen waren gemischt,
einige haben den ungerechten Gott verflucht, andere haben zu ihm gebetet,
man hat sich damit getröstet, daß Radio und Russen zwei grundverschiedene
Dinge sind, einer hat geweint wie ein Kind, die Tränen sind ihm zwischen
den Regentropfen unauffällig die Wangen heruntergelaufen. Einer hat
gesagt: "Hoffentlich ist das kein böses Zeichen."
Jakob konnte nicht ja und
nicht nein sagen, er mußte sie ihrem kleinen Schmerz überlassen,
lieber dem als der ganzen Wahrheit.
Ihm ist ein beachtlicher Sprung
nach vorne gelungen, ihm und den Russen, er hat sie in aller Stille eine
große Materialschlacht gewinnen lassen, an dem Flüßchen
Rudna, das nicht gleich vor der Haustür plätschert, aber doch
erfreulich näher als die Stadt Bezanika.
Beim Überschlagen der
bisher gelieferten Nachrichten ist Jakob aufgefallen, daß es sich
rundum besehen nur um in die Länge gezogene Nichtigkeiten handelt,
bis auf die allererste von Bezanika nichts mit Hand und Fuß. Aus
jedem Einfall hat er eine Riesengeschichte gemacht, oft unglaubwürdig
und durchschaubar. Zweifel sind bis zur Stunde nur deshalb ausgeblieben,
weil die Hoffnung sie blind und dumm gemacht hat. Doch in der Nacht ist
vor der Schlacht an der Rudna eine Erkenntnis gewonnen worden, Jakob hat
endlich die Quelle seiner Schwierigkeiten gesehen. Mit anderen Worten,
kaum war das Licht gelöscht, da leuchtete ihm auf, warum ihm die Erfindungen
so mühsam und zuletzt fast gar nicht mehr gelangen. Er war zu bescheiden,
argwöhnte er, er hatte stets versucht, sich mit seinen Nachrichten
in Bereichen zu bewegen, die später einmal, wenn das Leben wieder
seinen geregelten Gang geht, nicht nachzuprüfen sind. Bei jeder Neuigkeit
hat ihm Befangenheit im Wege gestanden, irgendein schlechtes Gewissen,
die Lügen kamen holprig und widerwillig von seinen Lippen, als suchten
sie ein Versteck, um sich in aller Eile zu verkriechen, bevor sie jemand
näher betrachtete. Aber dieses Vorgehen war von Grund auf falsch,
so wurde letzte Nacht errechnet, ein Lügner mit Gewissensbissen wird
sein Leben lang ein Stümper bleiben. In dieser Branche sind Zurückhaltung
und falsche Scham nicht angebracht, du mußt da aus dem vollen schöpfen,
die Überzeugung muß dir im Gesicht geschrieben stehen, du mußt
ihnen vorspielen, wie einer auszusehen hat, der das schon weiß, was
sie erst im nächsten Augenblick von dir erfahren. Man muß mit
Zahlen und mit Namen und mit Daten um sich werfen, die Schlacht an der
Rudna soll nur ein bescheidener Anfang sein. Sie wird nie in die Geschichte
eingehen, aber in unserer Geschichte erhält sie einen Ehrenplatz.
Und wenn alles ausgestanden ist, wenn jeder, den es interessiert, den wahren
Kriegsverlauf in Büchern nachlesen kann, dann sollen sie ruhig kommen
und einen fragen: "He du, was hast du damals für einen Blödsinn
erzählt? Wann hat es je eine Schlacht an der Rudna gegeben?" - "Hat
es nicht?" wird man dann verwundert antworten. "Zeigt mal das Buch her...
Tatsächlich, es hat sie nicht gegeben. Sie steht nicht drin. Dann
habe ich mich wohl verhört damals, entschuldigt bitte." Sie werden
einem wohl verzeihen, im schlimmsten Fall werden sie mit Schulterzucken
gehen,
vielleicht werden sogar solche unter ihnen sein, die sich für den
Irrtum bedanken.
Jakob hat, was den Fortgang
der Kampfhandlungen betrifft, ein wenig vorgearbeitet, wobei ihm seine
Ortskenntnis von großem Nutzen war. Die Schlacht an der Rudna mit
all ihren Nachwirkungen soll für die nächsten drei Tage ausreichen,
die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Denn das Überschreiten
des Flusses ist nicht ganz ohne Probleme, so leicht machen wir es den Russen
nicht, die Deutschen haben die einzige Brücke gesprengt, hat sich
Jakob gedacht. Bevor der Vormarsch fortgesetzt werden kann, muß eine
behelfsmäßige Pontonbrücke geoaur weroen, und darüber
vergehen die drei oder vier Tage. Dann ist auch das erledigt, die Russen
marschieren auf das Städtchen Tobolin, aus dem die Deutschen eine
Art Festung gemacht haben. Die hält wieder drei Tage stand, sie wird
umzingelt, von der Artillerie reif geschossen und von der Infantrie gestürmt,
in hoffnungsloser Lage unterschreibt Major Karthäuser, ein prächtiger
Name mit vertretbarem Rang, die Kapitulationsurkunde. Tobolin ist befreit.
Ganz nebenbei, darüber wird sich Mischa freuen, er hat dort eine Tante
zu wohnen, die diesen Sieg hoffentlich noch erlebt. Die Tante Lea Malamut,
sie besaß ein Galanteriewarengeschäft und hat, als Mischa noch
ein Junge war, zu jedem seiner Geburtstage ein Kästchen mit bunten
Knöpfen und Schnüren geschickt. Aber wir wollen uns nicht länger
als nötig in Tobolin aufhalten, von dort bis zur Kreisstadt Pry, der
nächsten in unserer Richtung, ist ein weiter Weg. An die siebzig Kilometer,
die sind in groben Zügen schon entworfen, jedoch noch nicht in allen
Einzelheiten fertig. Das wird Jakobs Nachtarbeit für die nächste
Zeit, bis Tobolin ist vorläufig alles klar, und heute wird auf dem
Bahnhof das Ergebnis der ruhmreichen Schlacht an der Rudna verkündet.
Gehobenen Herzens geht Jakob
zur Arbeit, ihm kommt ein hübsches kleines Glanzlicht in den Sinn,
das er dem Geschehen an der Rudna aufstecken könnte. Ob nicht vielleicht
geheime deutsche Pläne den Russen in die Hände gefalle sein sollten,
wodurch alle Aktionen des Gegners an dieser Front auf Wochen hinaus bekannt
sind und daher wirkungslos. Das wären ein paar Rosinen in Jakobs Kuchen,
aber sofort melden sich Zweifel, die Wahrscheinlichkeit betreffend, denn
bewahrt man geheime Pläne an solch unsicherem Ort auf, immerhin sind
die Deutschen keine Idioten. Und auch die Russen sind keine Idioten, selbst
wenn sie Pläne der genannten Art erbeuten, werden sie es nicht per
Radio in die Welt posaunen, sie werden es schön für sich behalten
und in aller Stille ihre Vorkehrungen treffen. Also verzichten wir auf
das kleine Glanzlicht, auch das Vorhandene genügt, um den Juden ein
wenig von der Haltung zu geben, mit der Jakob immer noch zur Arbeit geht,
gehobenen Herzens.
Aus dem Roman "Jakob der Lügner |