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Es war einmal ein Vater, der
hatte drei Töchter. Als er zur Messe fuhr, baten ihn die beiden älteren,
Kleider und Schuhe nach der letzten Mode für sie mitzubringen. Die
jüngste, Hanna; aber wünschte sich einen kleinen Vogel, ein singendes
springendes Löweneckerchen. So sehr sich der Vater auch umschaute
- so ein Tier konnte man nirgends kaufen. Er war schon auf dem Heimweg,
da hörte und sah er ein singendes, springendes Löweneckerchen
in einem Park hinter einem großen Tor. Er versuchte es zu fangen.
Plötzlich bedroht ihn ein schrecklicher Löwe; der das Vögelchen
bewachte. Der Vater steht Todesängste, aus, aber der Löwe sagt:
"Du kannst dich retten, wenn du mir das erste lebendige Wesen versprichst,
das dir zu Hause begegnet." Der Vater verspricht es und 'hofft, es werde
ihm zu Hause als erstes eine Mücke oder eine Maus begegnen. Als er
aber nach Hause kommt, begegnet ihm zuerst Hanna. Während die Schwestern
raten, den Löwen zu täuschen, faßt sich Hanna ein Herz
und geht um den Vater zu retten, in den Park hinter dem Tor. Dort schläft
sie ein. Sie wird von einem wunderschönen Prinzen geweckt. Er leidet
unter einem Fluch: Tagsüber hat er die Gestalt eines Löwen,
nur nachts darf er Mensch
sein. Hanna und der Prinz verlieben sich ineinander, sie leben lange in
Reichtum und Glück zusammen und freuen sich an den Wundern und Schönheiten
der Nacht. Solange die Sonne scheint, schlafen sie. Aber bald erwacht in
Hanna die Sehnsucht nach dem Vater und den Schwestern. Auch möchte
sie wieder einmal die Sonne sehen. Sie bittet den Prinzen inständig,
ihr den Besuch der Hochzeit ihrer Schwester zu gestatten. Am liebsten würde
sie ihn mitnehmen. Tagsüber könne er doch in Hannas Zimmer bleiben,
sie werde es abdunkeln und alle Ritzen verstopfen, damit kein Lichtstrahl
zu ihm hereindringt. Ungern und schweren Herzens stimmt der Prinz zu. Während
der Hochzeitsfeier öffnet eine neugierige Schwester die Tür zu
Hannas Zimmer, es fällt Licht hinein. Vor den Augen der entsetzten
Hanna verwandelt sich der Prinz in eine weiße Taube, die mit trauriger
Stimme spricht:
"Nun muß ich sieben
Jahre als Taube fliegen. Aber alle sieben Schritte will ich einen roten
Blutstropfen und eine weiße Feder fallen lassen. So kannst
du mich erlösen, wenn du meiner Spur folgst." Sieben Jahre folgt Hanna
der Spur durch die halbe Welt. Dann findet sie keine Blutstropfen und Federn
mehr. In ihrer Verzweiflung ruft sie Sonne, Mond und Wind zu Hilfe. Sonne
und Mond wissen nicht, wo der Prinz ist, aber sie sprechen Hanna Mut zu.
Die Sonne schenkt ihr ein Kästchen, das sie in der Not öffnen
soll; der Mond schenkt ihr ein silbernes Ei. Der Wind hat den Prinzen getroffen
und weiß ihn in großer Gefahr, aus der allein Hanna ihn retten
kann, wenn sie ihn mit einem Schilfhalm berührt.. Der Wind trägt
Hanna über Länder und Meere bis weit nach Afrika hinein. Dort,
wo sie landen, kämpft der Prinz in Löwengestalt mit einem abscheulichen
Lindwurm. Hanna findet den Schilfhalm und berührt die Kämpfenden.
Da wird der Lindwurm zu einer schönen Prinzessin und der Löwe
wieder zum Prinzen. Beide verlieben sich auf der Stelle ineinander, und
der Prinz folgt der lockenden Prinzessin, ohne Hanna auch nur anzusehen.
Sie bleibt allein zurück. -
Hanna will aufgeben, schlafen,
am liebsten sterben. Aber die Liebe ist stärker. Wieder macht sie
sich auf den Weg und verfolgt den Prinzen. Nach vielen Abenteuern findet
sie ihn bei der Prinzessin in einem Schloß hinter dem Glasberg. Dort
ist es eisig kalt. Die Prinzessin bereitet die Hochzeit vor und hält
Hanna für die Schneiderin, die das Brautkleid bringt. Sie öffnet
neugierig das Kästchen von der Sonne, findet ein wunderschönes
Brautkleid darin und fragt Hanna nach dem Preis. Hanna möchte nur
eine Nacht am Bett des Prinzen verbringen. Das schöne Kleid lockt
- die Prinzessin ist einverstanden. In der Nacht gelingt es Hanna nicht,
den schlafenden Prinzen zu wecken. Wieder will sie aufgeben und wirft,
da sie es nun nicht mehr nötig hat, das Ei des Mondes weg. Als es
zerbricht verwandelt die kalte öde Gegend in einen blühenden
Sommergarten. Die Prinzessin ist begeistert und möchte auch den Garten
haben. Hanna verlangt als Preis die Erlaubnis zu einer letzten Nacht am
Bett des Prinzen. Der Garten lockt - die Prinzessin stimmt zu. In dieser
Nacht singt Hanna dem Prinzen ein Lied von ihrer Liebe. Der Prinz erwacht
in Löwengestalt. Er erkennt Hanna und trägt sie auf seinen Armen
liebevoll davon. -
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Barbara Honigmann
Geb. 1949. Abitur, Studium
der Theaterwissenschaft
Dramaturgin in Brandenburg
und Berlin
Freischaffende Schriftstellerin
Das singende, springende
Löweneckerchen
Als Theaterstück uraufgeführt
1980 in Zwickau |