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Wo dieses Märchenland
nur liegen mag? Und wie man dorthin gelange, ins Wunderland, so werde ich
allenthalben von den Kindern gefragt. Manche von den größeren
unter ihnen behaupten sogar, daß es so etwas überhaupt nicht
gäbe. Den großen Atlas hätten sie von der ersten bis zur
letzten Karte durchgeblättert, wo alle Berge und Flüsse, alle
Meere und Seen und alle Länder verzeichnet sind, die es auf der Erde
gibt. Von einem Märchenland oder einem Wunderland sei aber auch nicht
die geringste Spur zu entdecken gewesen. Selbst auf dem Globus, der doch
der Erde, auf der wir leben, direkt nachgebildet ist, hätten sie kein
Märchenland finden können.
Das waren kluge Kinder, sehr
kluge sogar, die sich soviel Mühe gemacht hatten, um das Märchenland
zu entdecken. Aber die Kleinen unter euch, die noch nicht in die Schule
gehen und noch nicht im Atlas geblättert und noch keinen Globus gedreht
haben, brauchen darüber nicht traurig zu sein. Bald werdet auch ihr
die Farben der bunten Landkarten deuten und die klitzeklein gedruckten
Namen der Städte und Länder und Flüsse und Seen lesen. Ich
kann euch versichern, die Forscher unter euch, mit Atlas und Globus, haben
wirklich ganz genau nachgesehen; sie konnten das Märchenland wirklich
nicht finden.
Sie haben also doch recht,
meint ihr, und es gibt gar kein Märchenland? "Ich habe aber ein dickes
Märchenbuch, sogar Bilder sind darin", höre ich jemanden von
euch sagen, "und wenn es Märchenbücher gibt, dann muß es
doch auch das Märchenland geben!"
"Es ist sogar im Fernseh-Apparat
zu sehen", ruft nun ein anderer von euch dazwischen.
"Auch im Radio gibt es wunderbare
Geschichten zu hören!", sagt noch jemand, ehe gleich mehreren zu gleicher
Zeit einfällt: "Und das Sandmännchen? Woher kommt denn das Sandmännchen
jeden Abend?"
Ein ganz kluges Kind aber,
noch klüger als unsere spitzfindlgen Freunde, hat plötzlich einen
Gedanken. "Vielleicht, war es überhaupt nicht richtig, im Atlas und
auf dem Globus nachzusehen, wo dos Märchenland Iiegt. Könnte
man es so einfach finden wie irgend ein gewöhnliches Land, dann wäre
es ja auch gar kein M ä r c h e n land."
"Ja, und Wunderland heißt
es darum, weil es nicht auf dem Globus steht und trotzdem da ist", fügt
noch ein ganz kluges Kind hinzu. "Viellelcht erfahren wir etwas von unserer
Schallplatte darüber", läßt sich nun ein Pfiffikus vernehmen,
der bisher nur still zugehört und aufmerksam die Hülle betrachtet
hat, in der die geheimnisvolle schwarze Platte verborgen ist. "Hier steht
doch: MÄRCHENLAND-WUNDERLAND. Da, seht nur das Bild, das ist sicher
ein Stück vom Wunderland." Schon dreht sich unsere Platte. Nun vorsichtig
die Nadel aufgesetzt - und wer begegnet uns gleich zu Beginn, was meint
Ihr wohl? Niemand anderes, als Meister Nadelöhr mit seiner Zauberelle.
Haben wir richtig gehört? "Ich komme aus dem Märchenland", singt
er, "schnippeldiescnappel die Scher' . . . " Es scheint, unser Pfiffikus
hat recht gehabt und wir sind auf der richtigen Spur. Hören wir weiter.
Das Märchen vom Springbrunnen erzählt er uns, der gestohlen wurde.
Nein, nicht von dem Springbrunnen im Park, sondern von dem gleich hinter
dem pumperdicken Bullerberg. Und wißt ihr, wo der pumperdicke Bullerberg
liegt? Ihr wißt es nicht? Im Märchenland natürlich, dort,
wo die drei alten Kastanienbäume stehen. Wer wird sich da noch wundern,
daß es ein ganz besonderer Springbrunnen ist, von dem Meister Nadelöhr
zu erzählen weiß. Ein Springbrunnen, der mit seinem Singen und
Klingen alle Leute wieder froh machen kann, die ein trauriges Herz haben.
Dieser Springbrunnen nun war an einem Donnerstag nicht mehr an seinem Platz.
Schnatterinchen, Pittiplatsch und der Papagei Feffi hatten es zuerst gesehen,
daß der springende, singende Brunnen nicht mehr da war. Feffi bemerkte
sogar, daß dort, wo der Brunnen gestanden hatte, Riesentapsen in
den Boden getreten waren! So ruckelten und tuckelten die drei kleinen Freunde
mit dem alten Auto Jonathan durch das Märchenland um herauszufinden,
zu wem wohl die FüBe gehören mögen, die so riesengroße
Tapsen hinterlassen hatten, dort wo der springende, singende Brunnen stand,
und ob diese Tapsen etwas mit dem Verschwinden des Brunnens zu tun haben.
Doch lassen wir sie ruckeln und tuckeln, denn unsere Schallplatte dreht
sich unermüdlich weiter. Da ist schon der Sandmann zur Stelle, mit
der spannenden Geschichte vom kleinen Detlef, der Weltraumfahrer werden,
aber nie schlafen gehen wollte. Könnt ihr euch vorstellen, in einem
richtigen Raumschiff zu sitzen, das zum Mond fliegt? Von Detlefs Mondreise
erzählt der Sandmann, und ich verrate nur soviel, daß sie beinahe
ein unglückliches Ende genommen hätte, wenn nicht... Doch jetzt
dreht unsere Schallplatte schon die nächste Sandmann-Geschichte herbei:
vom unfolgsamen Dackelkind und seinem wahrhaft staunenswerten Abenteuer
mit dem Fuchs und der Eule. Wie? Ihr wußtet noch nicht, daß
alle Dackel, seit sich diese Geschichte zugetragen, herabhängende
Ohren haben? Paßt nur gut auf und hört dem Sandmann aufmerksam
zu, damit es euch nicht ebenso ergeht wie dem Dackelkind, das nicht auf
seine Mutter hören wollte.
Noch immer dreht sich die
Schallplatte und führt uns ihr werdet es nicht erraten - zu den Osterhasen.
Es ist kaum zu glauben, daß es so etwas gibt: unsere Geschichte handelt
von g e s t o h l e n e n Ostereiern! Eine lange Geschichte,
so lang, daß unsere Platte darüber zu Ende geht und endlich
still steht. Wißt ihr nun, wo Märchenland-Wunderland liegt?
Ein Stück davon habt ihr jedenfalls auf eurer Schallplatte, soviel
ist gewiß.
Joachim Herz |