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Das Märchen von den Wilden
Schwänen finden wir in der Literatur vieler Völker, es wurde
von verschiedenen Erzählern aufgegriffen, immer wieder aufs neue variiert
und mit interessanten Motiven angereichert. Es scheint, als könne
man Märchen gar nicht "falsch" nacherzählen, als sei jede Wiedergabe
zugleich eine Neuschöpfung, worin sich die Person des Erzählenden,
die Besonderheiten seines Volkes und seiner Zeit wiederfinden ließen.
Andererseits: Freuen wir uns nicht auch bei solchen Märchen wie "Hänsel
und Gretel'', "Schneewittchen" oder "Rotkäppchen" über die genaue
Wiedergabe der Begebenheiten und bestehen nicht gerade Kinder bei der wiederholten
Erzählung bekannter Märchen auf Genauigkeit in den ausschmückenden
Details und sind enttäuscht, wenn bei der Wiedererzählung zuviel
verändert wird?
Die Anziehungskraft von Märchen,
die verschiedene Deutungen und Auslegungen zulassen, mag auch darin begründet
sein, daß bestimmte Begebenheiten unsere Fantasie, unser Mitgefühl
und unseren Gerechtigkeitssinn immer wieder aufs neue anregen.
So geht es uns auch mit der
Geschichte von den Wilden Schwänen, die einstmals Menschen waren,
von einer bösen Stiefmutter verzaubert und vertrieben wurden und erst
durch eine uneigennützige und mutige Tat ihre Schwester erlöst
werden konnten.
Einer der bekanntesten und
beliebtesten Märchenerzähler, Hans Christian Andersen, hat diese
Geschichte im vorigen Jahrhundert in einer Fassung aufgeschrieben, die
weite Verbreitung fand: Ihre Bearbeitung
ist auf dieser Platte zu hören.
Wir wollten die Geschichte
so erzählen und hierin liegen die Änderungen und Anreicherungen
unserer Schallplattenaufnahme gegenüber dem Märchen von Andersen
-, daß man sich das Märchen nicht schlechthin in einer unbekannten
fremden Sphäre von Königen und Prinzessinnen vorzustellen hat,
sondern angeregt wird, die Haltungen der einzelnen Personen in der eigenen
alltäglichen Umwelt zu entdecken und aufzuspüren. Die Stiefmutter
ist nicht nur böse, sie ist machtgierig und will mit keinem teilen.
Sie kann ihre Macht aber besonders deswegen mißbrauchen, weil die
Kinder an der Entdeckung und Erkenntnis ihrer Umwelt nicht interessiert
waren und daher das geworden sind, was man "dumm" nennt. In Schwäne
verwandelt, sehen die jungen Prinzen das erste Mal die Welt außerhalb
des väterlichen Reiches und lernen, daß ihr Palast und sie selbst
nicht der Mittelpunkt der Welt sind.
Ganz ähnlich ergeht es
ihrer Schwester Elisa, die nichts anderes liebte und kannte als sich und
ihre eigene Schönheit.
Ihre Entwicklung beginnt mit
der Verstoßung aus dem behüteten Palast, in dem sie mit allem
wohlversorgt war. Die Stationen ihres Weges werden deutlich markiert: Angst
vor dem Alleinsein, Furcht vor dem Verlassenwerden, Mitleid mit sich selbst,
dessen Überwindung, wachsendes Selbstvertrauen und zunehmende Selbsterkenntnis.
Von entscheidender Bedeutung wird für Elisa die Begegnung mit dem
Wind und dem Meer. Diese Naturkräfte verkörpern Weisheit und
Können ohne Arglist und Eigennutz. Sie werden zu Helfern der Geschwister.
Der Wind unterstützt die Schwäne in ihrem Flug. Das Meer vertraut
Elisa sein Wissen um die Erlösungsmöglichkeit der Brüder
an, macht dem Mädchen Mut und hilft ihm, seine Angst und sein Selbstmitleid
zu überwinden.
Auch im Märchen vom Schweinehirten
begegnen wir einer Prinzessin. Sie interessiert sich ebenfalls nur für
sich selbst und dafür, wie sie die Zeit totschlagen kann. Ganz anders
der Prinz im benachbarten kleinen Königreich. Er langweilt sich gleichfalls,
aber er vermag die Ursache seiner Langeweile, das Alleinsein, zu erkennen.
Er unternimmt etwas dagegen,
indem er sich mit Witz, Fantasie und Können um einen anderen Menschen
bemüht. Doch muß er bald einsehen, daß alle seine Anstrengungen
vergebens sind, denn diese Prinzessin bleibt stumpf, gefühlskalt und
unbelehrt wie zuvor. Unempfindsam gegenüber den Gefühlen, die
ihr der Prinz, als Schweinehirt verkleidet, entgegenbringt, und zu dumm,
den Wert seiner Geschenke zu erkennen, zahlt sie für die vom Prinzen
verfertigten Instrumente mit Küssen wie andere mit Geld.
Nimmt dieses Märchen
ein gutes Ende? Es überrascht der Schluß, daß der Prinz
der Prinzessin die Tür zu seinem Königreich vor der Nase zuschlägt.
Aber hat er nicht Recht, wenn er aus der unveränderbaren Dummheit
der Prinzessin die richtigen wenn auch für ihn schmerzlichen Konsequenzen
zieht?
Hermann Neef |