Impressum/Disclaimer
|
Litera
860 062 |
Aus
Die
Geschichte von Ulenspiegel
und
Lamme Goedzak |
.
.
von Charles de Coster
Schallplattenbearbeitung - Ursula Püschel
Regie - Renate Thormelen
Dem Text liegt die Übersetzung von Karl Wolfskehl zugrunde. |
.
COVERTEXT
Die Asche brennt mir auf der
Brust" - dieser Satz von de Costers Ulenspiegel ist zum Synonym geworden
für revolutionäres Gewissen. De Costers Buch erschien 1868; er
gab ihm ein Vorwort der Eule bei, die sich darauf berief, daß sie
dem Helden den Namen gab. "Ihr habt Euch eine andere Lesart ausgedacht",
sagte sie, "erklärt Ulen aus Ulieden Spiegel - Euch Leuten
Spiegel - Euch, Bauern und Herren, Beherrschten und Beherrschenden, Spiegel
des Blödsinns, der Läppereien und der Verbrechen einer ganzen
Zeitrunde. Das ist blendend, aber unvernünftig. Man soll nie mit dem
Herkommen brechen." Und damit enthüllt sich die Eule als ein bourgeoises
Vieh, das nicht klug, sondern schlau ist; und ihre Schläue kommt allen
denen zustatten die im bürgerlichen Staate zu etwas kommen, vom Politiker
bis zur Kokotte. Diese Eule sagt: "Du Dichter, Du Krakeeler, Du haust besinnungslos
um Dich und auf alle los, die Du Henker Deines Vaterlandes nennst. Du stellst
Karl den Fünften und Philipp den Zweiten an den Schandpfahl der Geschichte;
Du bist nicht eulisch, Du bist nicht klug. Bist Du denn gewiß, daß
es keinen Karl den Fünften und Philipp den Zweiten mehr in dieser
Welt gibt? Fürchtest Du nicht, daß eine wachsame Zensur im Bauche
Deines Elefanten nach Anspielungen auf erlauchte Zeitgenossen stöbern
geht? Was lässest Du diesen Kaiser und diesen König nicht schlafen
in ihrer Gruft? Was kommst Du her und bellst wider solche Majestät.
Wer Schläge sucht, kommt unter Schlägen um. Es gibt Leute, die
Dir das nicht verzeihen, auch ich verzeih Dir nicht, Du störst meine
bourgeoise Verdauung."
De Coster, der den Ulenspiegel,
Held der Sage und des mittelalterlichen Volksbuches, in den niederländischen
Befreiungskampf verpflanzte, wollte also keineswegs ein historisches Bilderbuch
verfassen; sein Werk war für die Gegenwart bestimmt.
Kämpfendes Volk - das
war ein Vorstoß innerhalb der europäischen Literatur seiner
Zeit. In Rußland wie in Frankreich wurden die Gebrechen der Gesellschaft
in der Literatur angeprangert, aber noch duldete das Volk. Maxim Gorki
wurde erst im gleichen Jahr geboren, in dem "Ulenspiegel" erschien.
De Coster lebte in einem Land,
dessen historische Entwiclclung die literarische Entwicldung beeinträchtigte.
Aus einer Geschichte, in der das belgische Territorium Objekt dynastischer
Interessen war, ragte im 16. Jahrhundert ein Ereignis von europäischer
Bedeutung heraus: Der Kampf gegen Spanien an der Seite der Niederlande.
Im 19. Jahrhundert wurde es ein Spielball größerer Interessen:
Es hatte bis 1815 zu Frankreich gehört, nach dem Sieg der europäischen
Großmächte über Napoleon wurde es unter der Oberherrschaft
des Hauses Oranien mit Holland zwangsvereinigt. Obwohl die beiden Völker
eine gemeinsame revolutionäre Vergangenheit und gemeinsame Interessen
in der Gegenwart hatten, mißriet diese "Einigung von oben"; Belgien
erhob sich unter dem Eindruck der französischen Julirevolution 1830
und erkämpfte seine staatliche Unabhängigkeit. Die politischen
Probleme und Konflikte dieses Landes glichen von nun an denen jedes anderen
westeuropäischen kapitalistischen Staates.
Für die kulturelle Entwicklung
bestanden nach wie vor besondere Schwierigkeiten: Das Land war zweisprachig
- französisch und flämisch - hinzu kam noch eine wallonische
Sprachgruppe. Es hatte kaum eigene kulturelle Traditionen. Die großen
Nachbarn Frankreich und Deutschland wirkten stark auf die kulturelle Entwicklung
ein; außerdem kam noch hinzu, daß Französisch gleichzeitig
die Sprache des ehemaligen Unterdrückers war. Der holländische
Schriftsteller Theun de Vries schrieb über die belgische kulturelle
Entwicklung ab 1830: "Drum ist zu Anfang in dieser Kultur viel Unnatur
und Chauvinismus, mehr guter Wille, mehr Absicht als Talent enthalten.
Ihr bürgerlicher Charakter war durch die Wirklichkeit vorgeschrieben;
er wurde durch die schnelle kapitalistische Entwicklung des Landes nur
noch verstärkt. Inzwischen arbeitete der antifranzösische Kurs,
den die Intelektuellen dieses nationalen Typs einschlugen . . . , in der
Literatur einem romantischen Patriotismus in die Hände. Die Schriftsteller,
die sich nach 1830 stärker als zuvor als Belgier fühlen wollten,
sahen vor allem im historischen Roman . . . das Mittel, zu einem neuen
nationalen Ideal zu gelangen. Sie verteidigten das neue Vaterland, und
zwar in erster Linie durch die Verherrlichung seiner großen Vergangenheit
oder zumindest dessen, was ihnen groß erschien. Gleichzeitig verbarg
sich hinter dieser Verherrlichung verflossener Ruhmeszeiten, bewußt
oder unbewußt, das Verlangen, die häßliche Wirklichkeit
des neuen Belgiens durch den Hinweis auf eine Epoche vergessen zu machen,
die von fern gesehen schöner und interessanter erschien. Dieser, übrigens
sehr berechtigte, belgische Nationalstolz in der Nationalliteratur (kein
Volk kann vorwärtsgehen, das seine Vergangenheit nicht kennt und sich
darin vertieft hat) ist durchaus zu begreifen, wenn man ihn auch nicht
immer bewundern kann." Das war die literarische Situation, der sich de
Coster gegenüber sah.
Charles de Coster wurde 1827
geboren. Nach einigen Universitätsjahren in Brüssel versuchte
er, sich als Journalist und Literat zu etablieren. Dic Gruppen und Freundeskreisc,
in denen er verkehrte, waren liberal und demol<ratisch gesinnt, sie
standen in mehr oder minder scharfer Opposition zur bürgerlicher Gesellschaft.
De Coster verehrte seine großen französischen Zeitgenossen wie
Victor Hugo und bewunderte Meister wic Molicre, Schiller, E. T. A. Hoffmann.
Mit diesem literarischen Bereich vertrug sich gut sein Interesse für
Voll<switz, -wahrheit und -weisheit. Sein erstes bedeutendes Wcrl<
erschien 1858, die "Flämischen Legenden". Seine Beschäftigung
mit der Vergangenheit des Landes trug ihm einige Jahre ein Amt in einer
historischcn Kommission ein. Als er es dort nicht mrhr aushalten konnte,
lebte er weiter arm und entbehrungsvoll. Keines seiner Werke wurde zu seinen
Lebzeiten ein großer Erfolg. Nur wenige kannten ihn, als er 1879
starb.
"La légende et les
aventures heroiques, joyeuses et glorieuses d'Ulenspiegel et de Lamme Goedzak
au pays de Flandres et ailleurs", kurz, der "Ulenspiegel" ist Weltliteratur.
"Denn in Ulenspiegel lebt das ,Gewissen des Volkes`. Und jetzt, wo eine
Unzahl von Nationen sich aus ihrer Nacht erhebcn und ihre sozialistische
Wiedergeburt erleben, da erhebt auch dieses Gewissen seine mächtige
Stimme und macht den Konventionen und gesellschaftlichen Lügen ein
Ende, mit denen die alten Mächte des Eigennutzes und des Imperialismus
es vergeblich zu ersticken versucht hatten", schrieb Romain Rolland.
Ursula Püschel |
|