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Der 1933 geborene Joachim Nowotny
hatte als Erzähler und Autor von Kinderbüchern schon einen Namen,
als er 1968 nach einer eigenen Erzählung sein erstes Hörspiel
ABSTECHER MIT RÜHRUNG schrieb. 1970 folgte VIER FRAUEN EINES SONNTAGS;
1972 KUGLERS BIRKEN (unter dem Titel GALGENBERGSTORY auch als Fernsehspiel
gesendet) und 1974 EIN ALTES MODELL.
Nowotny verleugnet auch als
Hörspielautor nirgends sein erzählerisches Talent. Seine episodisch
aufgebauten Hörspiele, die - wie VIER FRAUEN EINES SONNTAGS - häufig
in einzelne "Stationen" gegliedert sind, zeichnen sich durch genaue Menschenbeobachtung,
durch soziale und psychologische Vertiefung des Konflikts und durch Humor
aus.
VIER FRAUEN EINES SONNTAGS
erzählt die Geschichte des Jungarbeiters Thomas, der unter einem quälenden
Widerspruch leidet: An den Werktagen arbeitet er wie ein Erwachsener und
genießt das Ansehen eines Erwachsenen; an den Sonntagen aber fühlt
er sich zurückversetzt in die Rolle des bevormundeten Kindes, dem
jeder Schritt vorgeschrieben wird. Gleichaltrige Freunde fehlen in seinem
Heimatdorf. In vier Begegnungen schildert Nowotny, wie Thomas versucht,
sich als Erwachsener zu behaupten, bis sich ihm die sechzehnjährige
Karin als Partnerin - fast wörtlich - in den Weg stellt.
Der Schluß hat etwas
vom glücklichen Ausgang im Märchen: Der Held, nachdem er drei
Enttäuschungen überstanden hat, wird belohnt, und siehe, er trifft
auf einen Menschen, der augenscheinlich ebenso in Not ist wie er.
Das alles ereignet sich ohne
lautstarke dramatische Zusammenstöße. Joachim Nowotny zeichnet
ein sehr differenziertes Porträt des jungen Arbeiters, der auf der
Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein steht, großsprecherisch
und sensibel, uneinig mit sich selbst, dabei selbstbewußt und sehr
empfindlich, wenn er sich zurückgesetzt fühlt. Nowotny verfolgt,
wie der stumm-verbissene Thomas zunächst in Selbstgespräche flüchtet,
die ihn vor sich selbst bestätigen sollen, dann aber in dem Maße
aus seiner Ich-Bezogenheit heraustritt, wie er Gesprächspartner findet,
die ihn ernst nehmen. Thomas ist kein "schwieriger Fall". Seine Auseinandersetzungen
- mit der Mutter, mit der Wirtin - sind ganz normaler, alltäglicher
Art. Es fehlt ihnen jede Zuspitzung. Deutlich aber wird, daß der
Junge unter seiner Unproduktivität und der sonntäglichen Langeweile
leidet, menschliche Verbindungen sucht und ernstgenommen sein will. In
seinen Gedanken
monologen reflektiert er vieles
von dem, was sein Leben ausmacht, und es ist auffällig, daß
das Gernegroß-Gebaren von ihm abfällt, sobald er an seine Arbeit
denkt: Hier fühlt er sich bestätigt!
Durch den Wechsel zwischen
Monolog und Szene erhält das Stück eine doppelte Perspektive.
Die Hörer erfahren, was Thomas denkt und fühlt; sie erleben aber
auch, wie er sich in der jeweiligen Situation verhält So entdeckt
sich der Widerspruch zwischen Thomas' Gedanken über die Frauen und
seinem Auftreten in den einzelnen Begegnungen. Wir lernen Thomas aber auch
während des szenischen Geschehens im Gespräch mit dem Mann am
See kennen und stellen fest, daß der Junge durchaus kein Maulheld
ist, der nur im Gespräch mit sich selbst Mut beweist - Das Ineinander
dieser beiden Ebenen, der Wechsel zwischen der subjektiven Erzählweise
einer Figur und der objektiven Erzählweise des Autors, schließlich
die Verschiebung des Schwergewichts im Verlauf des Stückes machen
das Werk zu einem unverwechselbaren Hörspiel.
Nowotnys Hörspiel steht
in einer nun schon fünfzigjährigen Tradition. Mitte der zwanziger
Jahre wurden die ersten Hörspiele in Deutschland produziert, und in
den folgenden Jahren erprobte eine große Zahl meist junger Schriftsteller
das Medium Rundfunk im Hinblick auf seine künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten.
Friedrich Wolf (KRASSIN RETTET ITALIA und JOHN D. EROBERT DIE WELT, Bertolt
Brecht (OZEANFLUG), aber auch Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Johannes
R. Becher (mit dem nicht erhaltenen Hörspiel DIE TRAGÖDIE DES
WILLIAM FOX), Alfred Döblin, Wolfgang Weyrauch und Georg W. Pijet
traten mit Hörspielen an die Öffentlichkeit. Das Hörspiel
- so sagte Alfred Döblin 1929 auf der Kasseler Arbeitstagung "Dichtung
und Rundfunk" - ermöglicht dem Schriftsteller eine unmittelbare Verbindung
zu einem großen Kreis von Menschen, und es löst die schriftstellerische
Arbeit aus der jahrhundertealten Verschriftung, indem es den "Sprachsteller"
verlangt Es besteht kein Zweifel daran, daß die Möglichkeit,
zu den Menschen zu s p r e c h e n, bis heute großen Reiz ausübt
und Autoren wie Joachim Nowotny immer wieder für das Hörspiel
gewinnt. - Nach dem hoffnungsvollen Beginn der Funkdramatik gingen ab 1933
nahezu alle ihre Autoren ins Exil, wo ihnen - in einer fremdsprachigen
Umwelt - kaum Möglichkeiten zur Arbeit mit den Radiostationen gegeben
waren. Diese Zusammenarbeit - das ist die zweite Besonderheit des Hörspielschreibers
gegenüber der Arbeit für einen Verlag - ist unersetzlich. Der
Hörspielautor ist durch den Dramaturgen und den Regisseur direkt mit
dem Rundfunk verbunden; er muß die Eigenart des technischen Mediums
beim Schreiben berücksichtigen und immer neu erproben. Auch das ist
weiterhin gültig geblieben. Die zwei bedeutenden Ausnahmen, daß
Hörspiele deutscher Autoren in jener Zeit von ausländischen Stationen
produziert wurden, sind Brechts DAS VERHÖR DES LUKULLUS (Beromünster
1940) und zuvor Anna Seghers' PROZESS DER JEANNE D'ARC ZU ROUEN 1 431 (Antwerpen
1 937). - Nach 1 945 wandten sich die aus dem Exil heimgekehrten Schriftsteller
auch der Neu- und Weiterentwicklung auf dem Gebiet des Hörspiels zu,
so Rudolf Leonhard, Maximilian Scheer, Berta Waterstradt und Hedda Zinner.
Seit 1950 erscheinen immer wieder zwei Hörspielautoren in unserem
Programm, die dessen Entwicklung inzwischen entscheidend mitbestimmt haben:
Gerhard Rentzsch und Günther Rücker. Beide haben großen
Anteil daran, daß das Hörspiel zu einem wichtigen Teil der sozialistischen
Dramatik in unserer Republik geworden ist. Zu den herausragenden Werken
am Anfang der fünfziger Jahre zählen Schweikerts HERHÖREN,
HIER SPRICHT HACKENBERGER (siehe LITERA 8 60 1 43) sowie GENESUNG von Karl
Georg Egel und Paul Wiens. In der zweiten Hälfte der fünfziger
Jahre wurden die ersten Hörspiele von Rolf Schneider, Bernhard Seeger,
Heiner und Inge Müller, Peter Hacks und Helmut Sakowski gesendet.
Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann debütierten 1960 mit SIEBEN
SCHEFFEL SALZ und EIN MANN STEHT VOR DER TÜR. - Die Entwicklung des
Hörspiels in der DDR erreichte damals ihren ersten Höhepunkt.
Genannt seien als weitere Beispiele Rentzschs ALTWEIBERSOMMER und NACHTZUG,
Seegers RAUHREIF (siehe Schultonband MB-A 462) sowie Rückers Funkmonologe
DER PLATZ AM FENSTER und DER PLATZ AM FENSTER GEGENÜBER. - Die sechziger
Jahre bedeuteten für den Rundfunk angesichts der wachsenden Rolle
des Fernsehens im gesellschaftlichen Leben eine Zeit der Überprüfung
bisher unbestrittener Positionen. Das äußerte sich unter anderem
im zeitweiligen Rückgang des Anteils von Originalhörspielen am
Sendeprogramm. Seit dem Ende der sechziger Jahre wendet sich jedoch erneut
eine stetig wachsende Zahl von Autoren dem Hörspiel zu. Die Möglichkeiten
der Kunstform werden weiterhin erschlossen, neue künstlerische und
technische Möglichkeiten - wie die der Stereofonie - werden erprobt,
neue Stoffgebiete erobert. Nachfolgend versuchen wir, mit wenigen Beispielen
die Vielfalt der Weiterentwicklung zu kennzeichnen: MARTIN KESSLER von
Günter Wünsche, FISCH ZU VIERT und FRAGEN AN EIN FOTO von Wolfgang
Kohlhaase, SCARDANELLI von Stefan Hermlin, DER ABITURMANN und UNSER STILLER
MANN von Arne Leonhardt, Dürer-Hörspiel MIT DER ZEIT EIN FEUER
und Heine-Hörspiel EHRENHÄNDEL von Günter Kunert, DIE LETZTE
SEITE IM TAGEBUCH von Gisela Steineckert, DIE NACHT MIT MEHLHOSE von Uwe
Kant, EIN DORF AUF DIESER ERDE und RANDBEWOHNER von Joachim Walther. Um
zumindest die Reihe der Autoren noch etwas fortzusetzen, nennen wir Karl-Heinz
Jakobs, Werner Gawade, Lothar Kleine Hans-Jürgen Bloch und Helfried
Schreiter. Jährlich entstehen 30 - 50 Hörspiele, außerdem
Funkbearbeitungen von epischen Werken und Theaterstücken. Der Themenkreis
reicht von der Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen (Helmut Richter
SCHORNSTEINBAUER Wolfgang Müller DIE SPUR DES HELFRIED PAPPELMANN)
bis zu historisch-biographischen Werken (wie beispielsweise Siegfried Pfaffs
Hörspiel über Wilhelm Pieck TRITT VOR DIE KLASSE, WILHELM) und
zu Kriminalhörspielen. Der Ensemblecharakter aller dieser Hörspiele
ist auffällig: Sie bilden - bei der unbestrittenen Eigenart jedes
Autors und jedes Werkes - ein Ganzes in ihrer Orientierung auf die sozialistische
Gegenwart und in ihrem parteilich entschiedenen Einsatz für die Hauptfragen
unserer Epoche.
In diesem Ensemble sehr unterschiedlicher
schriftstellerischer Leistungen gehört Nowotnys Hörspiel VIER
FRAUEN EINES SONNTAGS zu jenen Werken, die sich vorzugsweise an junge Hörer
wenden, ohne daß durch diese Kennzeichnung irgendetwas einschränkend
etikettiert wäre. Dazu gehören aber auch Kurzhörspiele wie
Jochen Hausers liebenswerte Geschichte vom HERRN KÜSSDIEHAND, die
im Rahmen der Reihe "Begegnung mit Freunden" zum 30. Jahrestag der Befreiung
vom Faschismus entstanden ist. Auffallendes Merkmal dieses Hörspiels
(und anderer Beiträge) ist die Darstellung unseres sozialistischen
Alltags: Auf heitere, aber durchaus nicht oberflächliche Weise kommen
Tugenden und Untugenden zur Sprache, denen wir tagtäglich begegnen
können. Es geht um die p r a k t i s c h e Bewährung dessen,
was wir uns vorgenommen haben: Freundschaft, Menschlichkeit, Mitarbeit
jedes einzelnen Bürgers. Durch die Wahl des kindlichen Erzählers
(der ein Bruder des braven Schülers Ottokar sein könnte), durch
die Einbeziehung ungarischer Musik und durch glänzende Darsteller
gewinnt das kleine Werk großen Reiz. Es ist ein schönes Beispiel
für jene humorvoll unterhaltende Literatur, die Spaß bereitet,
ohne auf Aktualität und Nachdenklichkeit zu verzichten. '
Dr. Peter Gugisch |