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Litera 865 218 Wedekind im 3. Stock
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SEITE 1
1. Tantenmörder 
Komposition: Wedekind 
Wagner

2. Prolog 
Decho 

3. Ilse
Komposition: Wedekind Wünscher, Sonsalla

4. Idyll aus dem modernen Leben 
Wünscher, Decho

5. Der Lorbeer 
Decho

6. Abendunterhaltung Wünscher, Wagner

7. Morgenstimmung 
Decho

8. Marasmus 
Komposition: Wedekind Wagner, Sonsalla

9. Der Gefangene 
Wünscher

10. Über Wedekind 
Wünscher, Decho, Wagner 

11. Tiefer Friede 
Wagner

12. An mich
Wünscher, Decho, Wagner

13. Aus dem Tagebuch 1883 Wagner, Decho

14. Mein Lieschen 
Komposition: Wedekind Wagner, Sonsalla

SEITE 2
15. Brigitte B. 
Komposition: Wedekind 
Wünscher, Sonsalla 

16. Albumblatt 
Wagner

17. Altes Lied 
Decho

18. Xanthippe 
Wagner 

19. Reaktion 
Wagner 

20. Aus "Die Büchse der Pandora": 
Prolog in der Buchhandlung 
Wünscher, Wagner, Decho

21. Zoologe in Berlin . 
Komposition: Wedekind 
Wagner, Sonsalla

22. Bessern soll ich mich 
Decho

23. Silvester 
Wagner 

24. Der grausamste Krieg 
Wünscher

25: Trost 
Decho 

26. Lehrer von Mezzodur 
Komposition: Wedekind 
Wünscher, Sonsalla

27. Der Reisekoffer 
Decho

28. Die Realistin 
Komposition: Pietsch Wünscher, Sonsalla 

29. Eroberung 
Wagner

30. An einen Jüngling 
Decho

31. Die Hunde 
Komposition: Wedekind 
Wagner, Sonsalla

32. Schluß 
Decho

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Studioaufnahme des Wedekind-Abends der Volksbühne Berlin - Theater im 3. Stock ("Der vermummte Herr und ein anderer")
Auswahl, Zusammenstellung und Regie: Fritz Decho 
Arrangements und musikalische Gesamtleitung: Wolfgang Pietsch 
Interpreten: Marianne Wünscher, Fritz Decho, Winfried Wagner
Gitarre: Gundula Sonsalla Tonregie: Karl-Hans Rockstedt
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COVERTEXT:

EIN VERMUMMTER HERR
Der "vermummte Herr", von dem hier die Rede ist, heißt Frank Wedekind - so jedenfalls hat sich der Stückschreiber und Liedersänger, der das wilhelminische Deutschland in Aufregung versetzte, gelegentlich selbst genannt.
Was eigentlich ist ein vermummter Herr? Einem klugen Wörterbuch entnehme ich, daß vermummen so viel bedeute wie "in eine Maske einhüllen", daß "Mummerei" so viel heiße wie "Maskerade", aber auch im Sinne von "Verstellung" gebraucht werde.
Wenn dieser Wedekind etwas nicht getan hat, nie in seinem ganzen Leben : er hat sich nicht verstellt Die bürgerliche Welt, in der er lebte, kam ihm abgestanden und verlogen vor, die bürgerliche Moral schien ihm so muffig wie heuchlerisch: er hat sie unausgesetzt attackiert. In dem wilhelminischen Karpfenteich der Jahrhundertwende war dieser Wedekind der Hecht- er schnappte häufig zu, mit scharfen Zähnen, mit nicht unterzukriegender Angriffslust. auch eine Festungsstrafe wegen "Majestätsbeleidigung" machte ihn nicht zu einem sanften Schreiber.
Ich komme noch einmal auf den "Vermummten Herrn" zurück. Ja, Wedekind hat sich häufig in eine Maske eingehüllt- er gab sich oft als frivoler Spötter, als Sittenverächter, als eiskalter Zyniker. In Wirklichkeit jedoch war er vor allem ein Moralist: ihn ekelte an, wie in der bürgerlichen Welt natürliche Gefühle und Triebe unterdrückt, verkrümmt oder gar gewinn
bringend kommerzialisiert wurden. Er wollte den Menschen helfen, zu sich selbst zu kommen, zu eigener Lust Er setzte aber den "Menschen" sehr allgemein, da war eine romantische Verschwommenheit; und
die Befreiung des Menschen ist ja noch ein bißchen mehr als die Befreiung der Triebe.
Aber dieser Wedekind, der 1918 starb, war und blieb ein aggressiver Kritiker der herrschenden bürgerlichen Moral seiner Zeit. Er war ein vermummter Herr, aber er war auch ein Herr mit Mumm: seine satirisch zugespitzten Stücke wie "Frühlingserwachen", seine aufreizenden Bänkellieder, Schauerballaden und Moritaten, die er in Münchener Kabaretts wie den "Elf Scharfrichtern" und dem "Überbrettl" zur Gitarre selbst vorzutragen pflegte, gingen aufs Ganze. Da wurde
kein Pardon gegeben, und Wedekind wollte von jener Gesellschaft auch keinen Pardon annehmen. Er blieb. wenn nicht auf der Gegenseite. so doch auf der Außen seite. Und viele Dinge, die er schrieb, hatten einen bestimmten Pfiff, eigenen Stil und Drall; man kann das auch Talent nennen. Auch das ist ein Grund, ein bißchen auf das zu hören oder wenigstens hinzuhören. was dieser Wedekind gemacht hat.
Über Wedekind haben Leute wie Heinrich Mann, Feuchtwanger und Brecht kluge und bedenkenswerte Dinge gesagt- der junge Brecht fand bei Wedekind nicht wenig Inspiration und Anregung. Und Heinrich Mann hat, im Herbst 1918, dem Freund ein Denkmal gesetzt; er hatte den prophetisch-realistischen Zug
im Werk Wedekinds deutlich erkannt
"Ob es ihm dabei wohl oder wehe war, er sah nur Kampf, fühlte nur das immer atemlosere Gewühl des Kampfes - im Lande wie in seinem Herzen. Weiber, die nur genießen, Männer, die nur erraffen, jede uneigennützige Handlung ein Hereinfall, jedes freundliche Gefühl ein Gelächter, nur kalte Neugier für Menschliches anstatt Teilnahme, nur Machtsucht, sogar bei den Denkern, den Armen vom Gesetz nur gerade das gefährliche Maul gestopft, den Schiebern aber jeder Erfolg auf Erden und im Himmel: das alles war in seinem Herzen schon fertig, als es im Lande erst heranwuchs, und der ganze Anfang des Jahrhunderts sprang,
kaum daß es in Wirklichkeit begonnen hatte, gewappnet aus seinem Kopf. Nirgends wie in seinen Stücken können Sie mit Händen greifen, wie sehr das Leben jener Tage schon Krieg war, bevor es dann wurde, was es war. Niemand hat so unausweichbar vorausgezeigt. wohin solch seelische Haltung treibe."
Nichts besseres ließe sich über Wedekind sagen. über seinen antikapitalistischen Elan. den enthüllenden Zugriff, den vorausschauenden Blick. Und kein Besserer hätte das sagen können als eben Heinrich
Mann: er hatte den "Untertan", den großen satirischrealistischen Roman, der den Untergang des wilhelminischen Deutschland ankündigt, schon 1914 abgeschlossen. Der vermummte Herr namens Wedekind war von ihm zu keiner Zeit weit entfernt.
Günther Cwojdrak