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EIN VERMUMMTER HERR
Der "vermummte Herr", von
dem hier die Rede ist, heißt Frank Wedekind - so jedenfalls hat sich
der Stückschreiber und Liedersänger, der das wilhelminische Deutschland
in Aufregung versetzte, gelegentlich selbst genannt.
Was eigentlich ist ein vermummter
Herr? Einem klugen Wörterbuch entnehme ich, daß vermummen so
viel bedeute wie "in eine Maske einhüllen", daß "Mummerei" so
viel heiße wie "Maskerade", aber auch im Sinne von "Verstellung"
gebraucht werde.
Wenn dieser Wedekind etwas
nicht getan hat, nie in seinem ganzen Leben : er hat sich nicht verstellt
Die bürgerliche Welt, in der er lebte, kam ihm abgestanden und verlogen
vor, die bürgerliche Moral schien ihm so muffig wie heuchlerisch:
er hat sie unausgesetzt attackiert. In dem wilhelminischen Karpfenteich
der Jahrhundertwende war dieser Wedekind der Hecht- er schnappte häufig
zu, mit scharfen Zähnen, mit nicht unterzukriegender Angriffslust.
auch eine Festungsstrafe wegen "Majestätsbeleidigung" machte ihn nicht
zu einem sanften Schreiber.
Ich komme noch einmal auf
den "Vermummten Herrn" zurück. Ja, Wedekind hat sich häufig in
eine Maske eingehüllt- er gab sich oft als frivoler Spötter,
als Sittenverächter, als eiskalter Zyniker. In Wirklichkeit jedoch
war er vor allem ein Moralist: ihn ekelte an, wie in der bürgerlichen
Welt natürliche Gefühle und Triebe unterdrückt, verkrümmt
oder gar gewinn
bringend kommerzialisiert
wurden. Er wollte den Menschen helfen, zu sich selbst zu kommen, zu eigener
Lust Er setzte aber den "Menschen" sehr allgemein, da war eine romantische
Verschwommenheit; und
die Befreiung des Menschen
ist ja noch ein bißchen mehr als die Befreiung der Triebe.
Aber dieser Wedekind, der
1918 starb, war und blieb ein aggressiver Kritiker der herrschenden bürgerlichen
Moral seiner Zeit. Er war ein vermummter Herr, aber er war auch ein Herr
mit Mumm: seine satirisch zugespitzten Stücke wie "Frühlingserwachen",
seine aufreizenden Bänkellieder, Schauerballaden und Moritaten, die
er in Münchener Kabaretts wie den "Elf Scharfrichtern" und dem "Überbrettl"
zur Gitarre selbst vorzutragen pflegte, gingen aufs Ganze. Da wurde
kein Pardon gegeben, und Wedekind
wollte von jener Gesellschaft auch keinen Pardon annehmen. Er blieb. wenn
nicht auf der Gegenseite. so doch auf der Außen seite. Und viele
Dinge, die er schrieb, hatten einen bestimmten Pfiff, eigenen Stil und
Drall; man kann das auch Talent nennen. Auch das ist ein Grund, ein bißchen
auf das zu hören oder wenigstens hinzuhören. was dieser Wedekind
gemacht hat.
Über Wedekind haben Leute
wie Heinrich Mann, Feuchtwanger und Brecht kluge und bedenkenswerte Dinge
gesagt- der junge Brecht fand bei Wedekind nicht wenig Inspiration und
Anregung. Und Heinrich Mann hat, im Herbst 1918, dem Freund ein Denkmal
gesetzt; er hatte den prophetisch-realistischen Zug
im Werk Wedekinds deutlich
erkannt
"Ob es ihm dabei wohl oder
wehe war, er sah nur Kampf, fühlte nur das immer atemlosere Gewühl
des Kampfes - im Lande wie in seinem Herzen. Weiber, die nur genießen,
Männer, die nur erraffen, jede uneigennützige Handlung ein Hereinfall,
jedes freundliche Gefühl ein Gelächter, nur kalte Neugier für
Menschliches anstatt Teilnahme, nur Machtsucht, sogar bei den Denkern,
den Armen vom Gesetz nur gerade das gefährliche Maul gestopft, den
Schiebern aber jeder Erfolg auf Erden und im Himmel: das alles war in seinem
Herzen schon fertig, als es im Lande erst heranwuchs, und der ganze Anfang
des Jahrhunderts sprang,
kaum daß es in Wirklichkeit
begonnen hatte, gewappnet aus seinem Kopf. Nirgends wie in seinen Stücken
können Sie mit Händen greifen, wie sehr das Leben jener Tage
schon Krieg war, bevor es dann wurde, was es war. Niemand hat so unausweichbar
vorausgezeigt. wohin solch seelische Haltung treibe."
Nichts besseres ließe
sich über Wedekind sagen. über seinen antikapitalistischen Elan.
den enthüllenden Zugriff, den vorausschauenden Blick. Und kein Besserer
hätte das sagen können als eben Heinrich
Mann: er hatte den "Untertan",
den großen satirischrealistischen Roman, der den Untergang des wilhelminischen
Deutschland ankündigt, schon 1914 abgeschlossen. Der vermummte Herr
namens Wedekind war von ihm zu keiner Zeit weit entfernt.
Günther Cwojdrak |