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Es war einmal, so fangen die
meisten Märchen an. Unsere Geschichte beginnt anders: Christine ist
ein kleines Mädchen mit blauen Augen und langen blonden Haaren. Sie
wohnt mit ihren Eltern am Rande der Stadt. Aber ich will die seltsame Begebenheit
von Christine und dem Wolkenschaf nicht noch mal erzählen. Ich will
sagen: Wir haben es nicht mit einer vergangenen, sondern mit einer heutigen
Geschichte zu tun.
Kinder fragen oft: "Wo kommen
denn die Geschichten her?" Oder: "Wer schreibt denn die Geschichten?" Und:
"Warum schreibt man Geschichten?"
Darauf zu antworten ist gar
nicht einfach. Das ist sogar sehr schwierig, kann ich euch versichern.
Und anstatt die Fragen direkt zu beantworten, möchte ich euch etwas
erzählen, was sich vor gar nicht langer Zeit zutrug, als ein kleines
Mädchen sehr artig zu Bett gegangen war. Das Mädchen sagte, was
unzählige Mädchen und Jungen jeden Abend sagen: .,Papa, erzähl
mir doch bitte ein Märchen!" Es war noch sehr früh am Abend,
und der Vater erzählte das Märchen vom Rotkäppchen. Ihr
wißt schon, das ist das Mädchen, das durch den Wald zur Oma
geht und viel Ärger mit dem bösen Wolf hat. Es ist so ziemlich
das schönste Märchen, das man sich denken kann. "Noch eins, bitte!"
sagte das Mädchen. Da erzählte der Vater noch das Märchen
von der Prinzessin und dem Schweinehirten. Denn dem Vater machte es Spaß,
Geschichten und Märchen zu erzählen. Und das ist ein wichtiger
Grund für das Entstehen von Geschichten: Man muß Spaß
dran haben. Nachdem der Vater das sehr kluge und schöne Märchen
von der Prinzessin und dem Schweinehirten erzählt hatte, sagte er:
"Und nun gute Nacht, Fräulein Silberzeh" (das Mädchen hatte sich
den Nagel vom linken kleinen Zeh mit silbernem Lack bepinselt) "gute gute
Nacht!" Aber das Mädchen wollte noch nicht schlafen, denn es war noch
gar nicht müde.
"Bitte, Papa" sagte es, "erzähle
mir eine Geschichte, die es nicht gibt."
Gibt es das, Geschichten,
die es nicht gibt? Ein bißchen gibt es ja alle Geschichten schon.
Denn sie haben ja alle - auch die unwirklichsten - mit dem Leben zu tun.
Stellt euch doch mal vor: Wie sollte ein Dichter das Märchen vom Schweinehirten
und der hochnäsigen Prinzessin schreiben, wenn er nicht wüßte,
daß es Schweinehirten und Prinzessinnen auch im wirklichen Leben
gibt? Das, was zwischen den beiden geschieht das kann er sich natürlich
selbst ausdenken. An das alles dachte der Vater, und die Tochter gucke
ihn aufmerksam an.
Und dann begann der Vater,
ein wenig stockend, zu erzählen: "Christine ist ein kleines Mädchen
mit blauen Augen und langen blonden Haaren . . ." Als in der Geschichte
das kleine hilflose Wolkenschaf auf die Erde gefallen war, da wußte
der Vater nicht recht, was nun geschehen solle. Aber geschwind fiel ihm
ein: Was wäre die Christine für ein Mensch, wenn sie nicht den
Wunsch hätte, zu helfen, mit Klugheit und Mut denen zu helfen, die
schwächer sind. Was wären die erwachsenen Leute für Menschen,
die einem kleinen Mädchen und einem kleinen Schäfchen ihre Hilfe
versagen wollten? Gleich erzählte der Vater die Geschichte weiter
bis zum guten Schluß, wo der Goldfisch "danke" sagt.
"Danke!' sagte auch die Tochter
und wollte die Geschichte noch einmal hören. "Morgen", versprach der
Vater. Und das Mädchen war artig und schlief sofort ein.
Der Vater aber dachte über
die kleine Geschichte nach und schrieb sie auf: einmal, zweimal, immer
wieder - bis er glaubte, es sei eine Geschichte, die nicht nur seiner Tochter,
sondern auch anderen Kindern gefallen könnte. Ihr seht: Geschichten
kann man nicht nur einfach so erzählen. Geschichten aufschreiben ist
eine Arbeit.
Und keine ganz leichte.
F. R.
Wenn man von einer Weihnachtsgans
spricht, denkt man sofort an jenen knusprig gebratenen Vogel, der mit Äpfeln
gefüllt und mit Rotkraut umkränzt auf der festlichen Tafel thront.
Auch die Weihnachtsgans Auguste wurde vom Opernsänger Löwenhaupt
zu diesem erfreulichen Zwecke erworben, und zwar lebendig und bereits im
November, weil ein guter Hausvater in diesen Dingen vorsorglich sein muß.
Da die Zeiten schwer waren und der Kauf ein nicht zu übersehendes
Loch in die Haushaltskasse riß, glaubte der Herr Opernsänger
die Ausgabe mit den Worten entschuldigen zu können: .Aber etwas muß
man doch fürs Herze tun" - wobei er offensichtlich die inneren Organe
verwechselte, denn wie jedermann aus Erfahrung weiß, ist Gänsebraten
eine Magenfreude. Trotzdem sollte er mit diesem Ausspruch genau ins Schwarze
treffen.
Kommt so ein seltener Gast
ins Haus, ist man einerseits besorgt um ihn, was Unterkunft und Pflege
anbelangt, damit er bis zum Tage seiner Bestimmung gesund und bei Pfunden
bleibt; andererseits aber wird es nicht zu verhindern sein, daß man
beginnt, Sympathien für ihn zu empfinden, besonders wenn es sich um
einen so manierlichen und unterhaltsamen Gast handelt, wie in unserem Falle.
Hat man aber einmal jemanden ins Herz geschlossen - sei es nun Mensch oder
Tier -, will man ihn um nichts in der Welt wieder verlieren. Dieser so
verständliche Wunsch war es auch, der die gesamte Familie Löwenhaupt
in arge Bedrängnis brachte, stand er doch in krassem Widerspruch zu
den weihnachtlichen Aufgaben der Gans Auguste.
Es ist kein Geringerer als
der Dichter Friedrich Wolf, der uns diese heitere Erzählung geschenkt
hat. Eine Erzählung, in der, wie in allen seinen Tiergeschichten,
"die leise Melodie der Freundschaft zwischen Mensch und Tier" aufklingt.
In seinem Buch "Märchen, Tiergeschichten und Fabeln" schreibt er in
einem Vorwort:
"Oft fragt man mich: weshalb
schreibst du - ein Mann, der wohl Wichtigeres zu tun hätte - solche
Tiergeschichten? Nun, einmal schreibe ich seit vierzig Jahren stets das,
was mich ringsrum auf dieser Erde befällt und bewegt, und das sind
auch
die Erlebnisse mit meinem
kleinen klugen Schnauzer "Bummi" und anderen Geschöpfen aus dem Nachbarreich
der Tiere. Sodann glaube ich, daß diese Erlebnisse gar nicht so unwichtig
sind vielmehr recht belustigend und lehrreich, und zwar nicht bloß
für mich, sondern auch für andere." Und weiter: "Gewiß,
wir Menschen stehen unbestritten auf der obersten Sprosse der großen
Leiter. Dennoch - nicht die Menschen, die Tiere könnten sich manchmal
beschweren, wenn wir einzelne Prachtexemplare unsrer Art mit ,Hundesohn'
, ,alter Esel' oder ,dumme Gans' titulieren. Seien wir also nicht gar zu
überheblich; und seien wir nicht achtlos oder grausam gegen die Tiere!
Bedenken wir, daß in der frühen Menschheitsgeschichte Hund und
Pferd unsre ersten Gefährten und Freunde waren!" .
B. W. |